Fehler nicht zu Monstern werden lassen – durch eine offene Lernkultur

Offene Fehler- und Lernkultur
Wir waren stolz auf unseren neuen Fahrzeugsitz. Unser Kunde, ein großer Automobilhersteller, plante die Umstellung seiner kompletten Produktpalette nach den Sommerferien. 50 Tage vor diesem Serienstart dann die Hiobsbotschaft: Ein Sicherheitstest ging schief. So wird der Sitz keine Zulassung bekommen. Bei Durchsicht der Versuchsberichte mussten wir feststellen: Der gleiche Test zeigte neun Monate früher bereits das gleiche Ergebnis. Also: Neun Monate wertvolle Zeit verloren. Unbeabsichtigt ist diese Information nicht ins Team durchgedrungen, der Fehler hatte sich zum Monster entwickelt. Und jetzt bewährte sich, dass unser Chef Feuerwehrmann war: Feuerwehrleute denken nämlich zuerst ans Retten und an die Lösung. Gesagt getan, alle zusammen an einen Tisch und los geht’s: Wir haben es gerade so geschafft, mit einer provisorischen Maßnahme den Serienstart abzusichern. Diese Erfahrung hat mein bisheriges Berufsleben geprägt.

Wenn Fehler zum Tabu werden

In vielen Unternehmen gelten Fehler als Schwäche. Doch diese Vermeidungshaltung ist gefährlich. Projekte scheitern, Vertrauen bröckelt – Innovationen bleiben aus. Der Bestseller „Black Box Thinking“ von Matthew Syed zeigt es eindrücklich: Während in der Luftfahrt jeder Fehler systematisch analysiert wird, werden in anderen Bereichen vielfach Fehler vertuscht. Das kostet Leben, Zeit und Geld. Offene Lernkultur heißt, aus jedem Fehler zu lernen – wie die Luftfahrt mit dem Black-Box-Prinzip.

5 Maximen für eine offene Lernkultur

1. Ursachen verstehen statt Schuld suchen

Fehler entstehen selten durch eine einzelne Person. In der Realität sind sie fast immer das Ergebnis einer Kette von Ursachen, unklaren Zuständigkeiten oder fehlenden Informationen. Deshalb ist es so wichtig, nicht reflexartig nach dem Schuldigen zu suchen, sondern die Ursachen zu verstehen – gemeinsam im Team. Hier hilft die bewährte 5-Why-Methode. Sie geht der Frage „Warum ist das passiert?“ so lange nach, bis man an der Wurzel des Problems angekommen ist – meist nach fünf Iterationen. Die Methode funktioniert am besten interdisziplinär im Team, ohne Schuldzuweisungen. Beispiel:
  • Problem: Der Sitz fiel im Sicherheitstest durch.
  • Warum? Weil die Rückenlehne gebrochen ist.
  • Warum? Weil das Verbindungsteil versagt hat.
  • Warum? Weil es falsch montiert wurde.
  • Warum? Weil die Anleitung unklar war.
Das Ergebnis zeigt: Nicht der Mensch war das Problem, sondern das System. Und genau dort setzt eine starke Lernkultur an.

2. No Blame Culture etablieren

Eine No Blame Culture ist eine Kultur des Vertrauens. Sie erlaubt es Mitarbeitenden, Fehler offen anzusprechen – ohne Angst vor Schuldzuweisung, Repression oder Imageverlust. In dieser Kultur geht es nicht darum, wer „schuld“ ist, sondern darum, was wir daraus lernen können. Diese Haltung ist besonders stark in sicherheitskritischen Branchen wie der Luftfahrt verankert. Auch im agilen Projektmanagement gewinnt die No Blame Culture zunehmend an Bedeutung. Was sie konkret bewirkt:
  • Fehler werden früher erkannt – weil niemand Angst hat, sie zu melden.
  • Teams lernen gemeinsam – statt sich intern zu blockieren.
  • Vertrauen wächst – und damit die Qualität der Zusammenarbeit.
Führungskräfte spielen dabei eine Schlüsselrolle. Sie müssen diesen offenen Umgang mit Fehlern aktiv vorleben und schützen – besonders dann, wenn es schwierig wird. Flache Hierarchien und ein kooperativer Führungsstil unterstützen die offene Lernkultur. Das Vertrauen, das Führungskräfte ihren Teams entgegenbringen, wird mit offener Kommunikation belohnt. Wann hast du das letzte Mal deinem Chef stolz von einem Fehler und der gemachten Lernerfahrung berichtet?

3. Aus Fehlerkultur wird Lernkultur

Eine offene Fehlerkultur ist der erste Schritt. Doch wirklich wertvoll wird sie erst, wenn daraus eine gelebte Lernkultur entsteht – also eine Kultur, in der Fehler nicht nur erkannt, sondern auch konsequent reflektiert, dokumentiert und in Verbesserungen überführt werden. Dazu braucht es vor allem Führungskräfte, die mit gutem Beispiel vorangehen. Sie schaffen den Raum für konstruktive Gespräche über Fehler und legen den Fokus nicht auf Schuld, sondern auf Entwicklung. In einer solchen Lernkultur gilt:
  • Fehler werden als Investitionen in Verbesserung gesehen.
  • Das Ziel ist nicht Bestrafung, sondern systemische Weiterentwicklung.
  • Die Umsetzung der Lernerkenntnisse im Alltag entscheidet über den Erfolg.
Ein anschauliches Beispiel: In meiner Rolle als Entwicklungsleiter habe ich folgendes erlebt: Der Sündenbock war schnell gefunden. Das haben Sündenböcke ja so an sich. Aber damit nicht genug: Es war Michael aus meinem Team. Mein Chef wollte ihn kurzerhand rausschmeißen. Ich dachte: Was für ein Wahnsinn, einen der erfahrensten Ingenieure zu verlieren. Ja klar, er hat nicht die beste Figur in diesem Projekt abgegeben, aber er war nicht der Einzige. Ich kenne ihn. Er hatte ganz sicher aus dem Projekt gelernt – und diese Lernerfahrung würden wir ebenfalls verlieren. Also bat ich meinen Chef um einen letzten Schritt: „Lassen Sie mich mit ihm ein Gespräch führen. Wenn er aus den Fehlern im Projekt gelernt hat, dann ist er doch einer unserer wertvollsten Leute, die ideale Besetzung für die offene Stelle in der Qualität. Denn wer, wenn nicht er, weiß jetzt, worauf es ankommt. Er hat doch jeden Fehler selbst schmerzhaft durchlebt.“ Mein Chef stimmte zu. Also führte ich das Gespräch in einer offenen Feedbackatmosphäre. Ich war richtig froh, dass Michael offen über die Fehler sprach – und darüber hinaus sogar Vorschläge machte, wie man die Fehler künftig vermeidet. Ich war überzeugt. Er bekam probeweise den Job. Nach drei Monaten waren alle super zufrieden mit ihm – auch mein Chef. Ein Riesengewinn für die Firma! Dieses Beispiel zeigt eindrücklich: Lernen aus Fehlern funktioniert nur mit Vertrauen und einer wertschätzenden Haltung. Wer Menschen nach Fehlern nicht fallen lässt, sondern gezielt weiterentwickelt, macht aus Schwächen Stärken – und aus Krisen Chancen.

4. Lernkultur verankern, aber wie?

Aus Fehlern lernen? OK, das wissen wir jetzt. Aber wie kommen wir in die Lernkurve? Also brauchen wir einen Prozess? Die berühmten Lessons learnt? Das ist aus meiner Sicht nicht der richtige Ansatz. Der Prozess ist wieder mit Zwang verbunden, da kommt selten etwas Vernünftiges raus. Lessons learnt verstauben in einer Datenbank und werden nie wieder angeschaut. Aus der Luftfahrt kommt hingegen die Erkenntnis, dass sich Fehler nie komplett vermeiden lassen. Deshalb werden Firewalls eingezogen, um Fehler abzufangen und die Auswirkung von Fehlern zu minimieren:
  • Ausbildung, Verfahrensstandards und Checklisten zielen auf die Vermeidung von bereits bekannten Fehlern
  • Gegenseitige Kontrolle der Besatzungsmitglieder und unmittelbares Ansprechen von Fehlern unabhängig von der Hierarchie
  • Nachbesprechung (Debriefing), um Fehler ohne Schuldzuweisung zu diskutieren und abzustellen
Diese Form der Institutionalisierung empfehle ich auch für Unternehmen, da diese Maßnahmen die Fehlerkultur im Tagesgeschäft präsent machen und sie so zur Routine werden.

5. Fehler dürfen nicht beim Kunden ankommen

Kundenorientierung bedeutet nicht nur, Wünsche zu erfüllen – sondern auch, Fehler aktiv vom Kunden fernzuhalten. Denn Fehler, die den Kunden erreichen, beschädigen nicht nur das Vertrauen, sondern auch die Marke und die Beziehung zur Zielgruppe. Doch wie lässt sich das praktisch umsetzen? Der erste Schritt ist, potenzielle Fehlerquellen systematisch zu erkennen und abzusichern. Unternehmen, die eine offene Lernkultur etabliert haben, bauen sogenannte „Firewalls“ ein – Schutzmechanismen, die Fehler entweder ganz verhindern oder ihre Auswirkungen deutlich minimieren. Dazu gehören z. B.:
  • Klare Prozessstandards und Checklisten
  • Mehrstufige Qualitätssicherungen
  • Gegenseitige Prüfungen („4-Augen-Prinzip“)
  • Simulationen und Testszenarien vor Live-Schaltung
  • Frühzeitige Rückmeldeschleifen mit internen Kunden
Ein zweiter, oft übersehener Aspekt ist der experimentelle Charakter moderner Innovationskultur. Dort, wo Neues ausprobiert wird – etwa in Produktentwicklung, UX-Design oder agilen Pilotprojekten – sind Fehler nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Diese Trial-and-Error-Phasen ermöglichen echte Innovation. Wichtig ist nur: Diese Experimente müssen klar vom Kundenkontakt getrennt sein. Testumgebungen, Beta-Programme oder interne Prototypentests bieten geschützte Räume, in denen Fehler erkannt und behoben werden können, bevor sie öffentlich sichtbar werden. Was passiert, wenn ein Unternehmen keine bewusste Fehlerkultur lebt? Dann entstehen folgende Risiken:
  • Fehler werden nicht rechtzeitig erkannt
  • Mitarbeitende sprechen Probleme nicht offen an
  • Fehler erreichen den Kunden und beschädigen die Kundenbeziehung
  • Das Unternehmen wirkt unprofessionell oder unzuverlässig
👉 Fazit: Eine konsequent gelebte Fehler- und Lernkultur hat einen direkten Einfluss auf das Bild, das Kunden vom Unternehmen haben – und damit auf Kundenzufriedenheit, Markenloyalität und den Unternehmenserfolg. Welche Erfahrungen hast du im Umgang mit Fehlern gemacht? Hast du vielleicht Schuldzuweisungen erlebt? Gar nicht so unwahrscheinlich, denn eine positive Fehler- und Lernkultur ist in deutschen Unternehmen noch nicht sehr verbreitet, wie diese Studie von Ernest & Young aus dem Jahr 2018 zeigt.

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